Theatererfahrung als analytischer Ausgangspunkt
- karstenhartdegen
- vor 8 Minuten
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Der Besuch von Eugène Ionescos Die Nashörner am 10. Dezember im Düsseldorfer Schauspielhaus hat mir eindrücklich vor Augen geführt, wie schnell Menschen unter Bedingungen kollektiver Dynamik ihre individuelle Urteilskraft suspendieren.
Die groteske Metamorphose der Figuren in stampfende Nashörner fungiert als überzeichnete, aber präzise Metapher für Situationen, in denen Konformitätsdruck, gruppendynamische Verstärkungsprozesse und institutionalisierte Routinen die personale Integrität gefährden. Das Stück eröffnet damit einen analytischen Zugang zu jenen alltäglichen Kontexten, in denen Anpassung nicht explizit gefordert, aber implizit erwartet wird.
Gelassenheit und radikale Akzeptanz als professionelle Grundhaltungen
In meinen Seminaren (sei es in Schule, Pflege, Hospiz, sozialen Einrichtungen oder in Führungskontexten – begegne ich regelmäßig Menschen, die in organisationalen Strukturen arbeiten, die subtile Formen der Normierung erzeugen. Gerade hier zeigt sich die Relevanz von Gelassenheit und radikaler Akzeptanz als professionellen Haltungen. Gelassenheit beschreibt die Fähigkeit zur affektiven Selbstregulation unter Belastung: Sie ermöglicht es, äußere Anforderungen wahrzunehmen, ohne unmittelbar in reaktive Muster zu verfallen. Diese Form der inneren Distanzierung ist kein Rückzug, sondern eine Voraussetzung für differenzierte Wahrnehmung und situativ angemessenes Handeln. Radikale Akzeptanz ergänzt diese Haltung, indem sie die Bereitschaft bezeichnet, die Realität – einschließlich ihrer Ambivalenzen und strukturellen Begrenzungen – klar zu erkennen. Sie ist kein passives Hinnehmen, sondern ein kognitiver Akt der Realitätsanerkennung, der Integrität schützt und handlungsleitende Klarheit erzeugt.
Pflege und Hospiz: Handlungsfähigkeit im Spannungsfeld institutioneller Vorgaben
In der Pflege und im Hospizbereich wird diese Verbindung besonders deutlich. Mitarbeitende bewegen sich in hochgradig regulierten, zeitlich verdichteten und emotional anspruchsvollen Arbeitsumgebungen. Akzeptanz bedeutet hier, institutionelle Rahmenbedingungen – etwa enge Taktungen, Dokumentationspflichten oder personelle Engpässe – als gegebene Strukturmerkmale zu erkennen, ohne die eigene professionelle Haltung zu verlieren. Eine Pflegekraft, die sich trotz Zeitdruck bewusst dafür entscheidet, einer sterbenden Person einen Moment ungeteilter Aufmerksamkeit zu schenken, handelt nicht gegen das System, sondern innerhalb seiner Grenzen mit einer klaren Priorisierung. Gelassenheit ermöglicht in solchen Situationen, die eigene Präsenz aufrechtzuerhalten, ohne sich von organisationaler Hektik absorbieren zu lassen.
Schule und Pädagogik: Professionelle Distanz zu destruktiven Kollegiumsdynamiken
Auch im schulischen Kontext zeigt sich die Bedeutung dieser Haltungen. Kollegien entwickeln über Jahre hinweg spezifische Kommunikationsmuster, die von Zynismus, Abwertung oder resignativer Routine geprägt sein können. Akzeptanz bedeutet hier, diese Muster als Teil der organisationalen Kultur zu erkennen, ohne sie zu internalisieren. Gelassenheit befähigt Lehrkräfte, sich nicht in destruktive Gesprächsdynamiken hineinziehen zu lassen, sondern eine professionelle Distanz zu wahren. Eine Lehrkraft, die sich entscheidet, ein abwertendes Gespräch nicht fortzuführen oder eine alternative Perspektive einzubringen, setzt damit einen stillen, aber wirksamen Kontrapunkt zur gruppendynamischen Sogwirkung.
Führung und Teamarbeit: Integrität unter schwierigen Rahmenbedingungen
In Führungskontexten treten häufig Strukturen zutage, die Anpassung belohnen und kritische Reflexion erschweren – etwa autoritäre Kommunikationsstile, fehlende Fehlerkultur oder implizite Loyalitätserwartungen. Radikale Akzeptanz bedeutet hier, diese Muster klar zu erkennen, ohne sie zu normalisieren oder sich selbst dafür verantwortlich zu machen. Gelassenheit schützt Führungskräfte davor, in dieselben dysfunktionalen Muster zu geraten. Eine Führungskraft, die trotz toxischer Rahmenbedingungen transparent, ruhig und wertschätzend kommuniziert, übt eine Form von Widerstand aus, die nicht konfrontativ, aber nachhaltig wirksam ist. Sie bewahrt ihre Integrität, weil sie die Realität sieht und dennoch bewusst entscheidet, wie sie handeln will.
Persönliche Reflexion: Widerstand als innere Entscheidung
Für mich persönlich hat das Stück noch einmal verdeutlicht, dass Widerstand nicht notwendigerweise laut, heroisch oder konfrontativ sein muss. Er beginnt im Inneren, mit der Entscheidung, sich nicht in die Logik der stampfenden Masse einzuschreiben.
Gelassenheit und radikale Akzeptanz sind dabei keine passiven Haltungen, sondern professionelle Ressourcen, die es ermöglichen, unter schwierigen Bedingungen klar, resilient und menschlich zu bleiben, auch wenn die umgebenden Strukturen in eine andere Richtung drängen.
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Düsseldorf, 12.12.2025
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Karsten Hartdegen M.A.