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Radikale Akzeptanz und Sinn: Ein transformativer Zusammenhang

  • karstenhartdegen
  • vor 14 Minuten
  • 6 Min. Lesezeit

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Radikale Akzeptanz und Sinnfindung sind mehr als benachbarte Konzepte: Sie bilden ein Spannungsfeld, in dem sich menschliche Bewältigung, Orientierung und Entwicklung entfalten. Radikale Akzeptanz bezeichnet das bewusste, umfassende Annehmen der Realität – einschließlich Schmerz, Verlust, Endlichkeit und Unvollkommenheit, ohne Abwehr, Verleugnung oder Vermeidung (Stangl, 2024).

Sinn wird als subjektive Erfahrung von Bedeutung, Kohärenz und Zielgerichtetheit verstanden, die Handeln und Identität strukturiert (Schnell & Becker, 2007).

Erst Akzeptanz öffnet den psychologischen Raum, in dem Sinn erkannt, konstruiert und gelebt werden kann: Sie löst den Energieverbrauch des Widerstands und lenkt Aufmerksamkeit auf Werte, Beziehungen und Gestaltungsspielräume.


Theoretische Fundierung

Die „Dritte Welle“ verhaltenstherapeutischer Ansätze, insbesondere die Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT), hat diesen Zusammenhang systematisch herausgearbeitet. ACT betont, dass Akzeptanz nicht mit Resignation gleichzusetzen ist, sondern vielmehr einen aktiven Prozess darstellt, der die Grundlage für werteorientiertes Handeln bildet (Benoy, Eifert & Gloster, 2021; Klein, Gloster & Burian, 2021). Während Resignation durch Passivität und Aufgabe gekennzeichnet ist, eröffnet radikale Akzeptanz die Möglichkeit, die Energie, die bislang im Widerstand gebunden war, für die Verwirklichung persönlicher Werte und damit für Sinnfindung einzusetzen.

Zentral ist die Annahme, dass psychisches Leiden nicht primär durch den Schmerz selbst entsteht, sondern durch den Widerstand gegen Unveränderliches. Dieser Widerstand manifestiert sich in dysfunktionalen Gedanken („Es darf nicht so sein“) und Verhaltensmustern (Vermeidung, Rückzug), die das Leiden verstärken. Radikale Akzeptanz reduziert diesen Widerstand, indem sie die Realität als gegeben anerkennt und dadurch einen inneren Raum schafft, in dem Werteorientierung und Sinnkonstruktion möglich werden.

 

Empirische Befunde

Aktuelle Studien belegen die Wirksamkeit dieser Haltung. Eine transdiagnostische Untersuchung der Medical School Berlin zeigte, dass erhöhte psychische Flexibilität durch ACT signifikant mit besseren Therapieergebnissen korreliert (Rutschmann, Romanczuk-Seiferth, Gloster & Richter, 2024). Auch in psychoonkologischen Kontexten konnte ACT die Lebensqualität von Krebspatient*innen steigern, indem Akzeptanzprozesse Sinnressourcen aktivierten (Sauer & Weißflog, 2025). Darüber hinaus zeigen qualitative Studien im Bereich der Pflege, dass Sinnfindung eng mit Akzeptanzprozessen verbunden ist, etwa bei pflegenden Angehörigen, die durch die bewusste Annahme ihrer Situation neue Bedeutung konstruieren (Kubitza, Steinmaier & Frick, 2025).

 

Praxisbeispiele

1. Chronische Krankheit – von Kontrollverlust zu Wertehandeln 

Eine Person, die mit einer Autoimmunerkrankung konfrontiert wird, erlebt nach der Diagnose zunächst einen massiven inneren Widerstand. Sie investiert unzählige Stunden in alternative Heilversuche, durchforstet Internetforen nach Wundermitteln und klammert sich an jede vermeintliche Hoffnung. Gleichzeitig meidet sie soziale Aktivitäten, zieht sich von Freund: innen zurück und verliert das Vertrauen in die eigene Wirksamkeit. Gedanken wie „Ich bin nutzlos“ prägen die Selbstwahrnehmung. Die Folge sind Schlafstörungen, erhöhte Stresssymptome und ein lähmender Rückzug. Erst in der therapeutischen Begleitung wird Akzeptanz als Haltung eingeführt, nicht als Aufgabe des Bemühens um Gesundheit, sondern als bewusste Entscheidung, die Realität anzunehmen. Die Person benennt drei zentrale Werte: Verbundenheit, Kompetenz und Fürsorge. Diese Werte werden zum Kompass für das Handeln: regelmäßige Treffen mit Freund: innen, eine berufliche Neuorientierung, die den eigenen Fähigkeiten entspricht, und das Engagement in einer Selbsthilfegruppe. Der Schmerz bleibt bestehen, doch der sekundäre Leidensdruck nimmt ab. Sinn entsteht als gelebte Bedeutung in Beziehungen und im Beitrag für andere Menschen, ein neues Fundament, das trägt, auch wenn die Krankheit nicht verschwindet.

 

2. Trauer – Integration statt Vermeidung 

Eine Frau verliert ihren Partner unerwartet und wird von einer Welle der Trauer erfasst. In den ersten Monaten dominiert die Vermeidung: Sie meidet Orte, die Erinnerungen wecken könnten, unterbindet Kontakte und wiederholt unablässig die Formel „Es hätte nicht passieren dürfen“. Die Trauer kreist wie ein endloses Echo, Schlaflosigkeit und Grübelschleifen verstärken sich. Erst durch die Arbeit mit einer „Unveränderlichkeitsliste“ (Stangl, 2024) gelingt es, radikale Akzeptanz zu üben. Der Verlust wird als real und unwiderruflich benannt, und der Schmerz darf bewusst da sein. Parallel klärt die Frau ihre Werte (Mitgefühl und Verbundenheit) und beginnt mit kleinen Commitments: zunächst ein monatlicher Besuch im Hospizcafé, später ein ehrenamtliches Engagement in der Begleitung von Menschen in schwierigen Lebenssituationen. Der Schmerz verschwindet nicht, doch er wird integriert und erhält Bedeutung. Aus der Akzeptanz erwächst eine neue Form von Sinn, die Trauer transformiert und den Blick öffnet für eine tiefe, menschliche Solidarität.

 

3. Prüfungsformate – Lernhandeln unter festen Rahmenbedingungen 

Eine Oberstufenklasse steht vor zentralisierten Prüfungen und reagiert zunächst mit Widerstand. Die Schüler: innen empfinden das Format als unfair, was zu Prokrastination und Resignation führt. Die Lehrkraft greift diesen Widerstand auf und führt eine Reflexion ein, die zwischen „Gegebenem“ und „Gestaltbarem“ unterscheidet. Unveränderliche Faktoren wie die Prüfungsformate selbst werden markiert, während die Aufmerksamkeit auf die gestaltbaren Bereiche gelenkt wird: Strategien der Vorbereitung, Kooperation innerhalb der Klasse und ein bewusstes Pausenmanagement. Diese Verschiebung der Energie vom Widerstand zur Gestaltung führt zu mehr Prozesskontrolle, weniger Klagen und einem spürbaren Kompetenzzuwachs. Sinn entsteht hier als Erfahrung von Selbstwirksamkeit und als Fortschritt im eigenen Lernhandeln.

 

4. Erwachsenenbildung – Wertearbeit trotz Organisationsvorgaben 

In einer Weiterbildung beklagen die Teilnehmenden starre organisatorische Vorgaben, die zunächst als Einschränkung empfunden werden. Eine Trainerin greift die Unzufriedenheit auf und implementiert eine Wertearbeit. Jede Person benennt drei Kernwerte und leitet daraus konkrete Optionen ab, die innerhalb der gegebenen Struktur lebbar sind. Die Vorgaben werden nicht länger als Feind betrachtet, sondern als Rahmen, innerhalb dessen Gestaltung möglich ist. Sinn entsteht durch die gelebte Kongruenz zwischen den eigenen Werten und dem Verhalten im Lernprozess. Die Teilnehmenden erleben, dass selbst unter festen Vorgaben ein Raum für Authentizität und persönliche Entwicklung bleibt.

 

5. Lehrkräfte-Resilienz – Beziehungsgestaltung bei großen Klassen 

Eine Lehrkraft unterrichtet dauerhaft in übergroßen Klassen und reagiert zunächst mit Frustration und Zynismus. Die Belastung scheint übermächtig, und die Energie fließt in Empörung über die unveränderlichen Rahmenbedingungen. Mit der Haltung der Akzeptanz gelingt es, das Unveränderliche (die Klassengröße) klar zu markieren und die Aufmerksamkeit auf das Gestaltbare zu lenken. Beziehungsrituale, Feedbackfenster und kommunikative Prozesse werden bewusst gestaltet. Die Lehrkraft erlebt Sinn nicht in der Größe der Klasse, sondern in der Qualität der pädagogischen Begegnung. Aus der Akzeptanz erwächst Resilienz, und die Erfahrung von Sinn liegt in der Tiefe der Beziehungen, die trotz schwieriger Rahmenbedingungen gepflegt werden können.

 

Fazit

Radikale Akzeptanz ist ein aktiver, kontextsensibler Prozess, der psychische Flexibilität ermöglicht und Sinn als gelebte Kongruenz zwischen Werten, Handeln und Erfahrung hervorbringt. In der Psychotherapie reduziert Akzeptanz sekundären Leidensdruck und eröffnet wertegeleitetes Engagement. Sinn kann dort als interpretative und handlungsbezogene Struktur entstehen, die Belastungen einbettet und Motivation stabilisiert. In der Pädagogik entlastet Akzeptanz von Kontrollillusionen, stärkt Selbstwirksamkeit und macht Gestaltung innerhalb realer Grenzen sichtbar. Sinn wird zum Bildungsprinzip: Lernen heißt nicht nur Wissenserwerb, sondern die bewusste Auseinandersetzung mit Wirklichkeit, Begrenzung und Verantwortung.

Transdisziplinär betrachtet, verbindet Akzeptanz die Anerkennung des Gegebenen mit der Verpflichtung auf das Gewählte. Sinn ist das, was diese Spannung fruchtbar macht. Die Praxisbeispiele zeigen, dass Sinn nicht als abstrakter „Lebenszweck“ entsteht, sondern als konkrete, alltägliche Handlung, die Werte ins Leben bringt. Damit ist radikale Akzeptanz kein Ende von Ambition, sondern deren Realismus: Sie verlagert die Energie vom Kampf gegen das Unveränderliche zur Gestaltung des Möglichen, und genau dort wächst Sinn.

 

Eine Metapher zum Abschluss:

Radikale Akzeptanz ist wie das Loslassen des Ruders im Sturm. Man hört auf, gegen die Wellen anzukämpfen, und richtet das Segel nach dem Wind. Sinn entsteht dort, wo wir die Kraft des Unveränderlichen nutzen, um das Schiff unseres Lebens in Richtung unserer Werte zu steuern.

 

Literatur

·       Benoy, C., Eifert, G. H., & Gloster, A. T. (2021). Aktuelle Weiterentwicklungen der Verhaltenstherapie: Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT). In Klinische Psychologie & Psychotherapie (pp. 459–469). Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-662-61814-1_18

·       Diezemann, A., & Korb, J. (2022). Akzeptanz- und Commitment-Therapie in der Schmerzpsychotherapie. In Schmerzpsychotherapie (pp. 337–348). Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-662-50512-0_18

·       Haupt, S., Leßner, T., & Zenke, C. T. (2023). Wie radikal ist noch normal? Zum Verhältnis von etablierter Erziehungswissenschaft und pädagogischer Radikalität. In S. Hofbauer, F. Schreiber & K. Vogel (Hrsg.), Grenzziehungen und Grenzbeziehungen des Disziplinären (S. 17–25). Klinkhardt. https://www.pedocs.de/volltexte/2023/28099/pdf/Haupt_et_al_2023_Wie_radikal_ist_noch.pdf

·       Klein, J. P., Gloster, A. T., & Burian, R. (2021). Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT): Eine praxisorientierte Einführung. PSYCH up2date, 15(4), 339–356. https://doi.org/10.1055/a-1289-1280

·       Kubitza, J., Steinmaier, V., & Frick, E. (2025). Zwischen Sinnfindung und Selbstverwirklichung: Eine qualitative Studie zur Inanspruchnahme von Hilfe aus Sicht der pflegenden Angehörigen. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 58(4), 583–589. https://doi.org/10.1007/s00391-025-02437-1

·       Robert Koch-Institut. (2025). Psychische Gesundheit in Deutschland: Bericht Teil 1 – Erwachsene. Berlin: RKI. https://www.rki.de/DE/Themen/Nichtuebertragbare-Krankheiten/Psychische-Gesundheit/Psychische-Gesundheit-und-Stoerungen/EBH_Bericht_Psyschiche_Gesundheit.pdf

·       Rutschmann, R., Romanczuk-Seiferth, N., Gloster, A. T., & Richter, C. (2024). Neue Studie zeigt Zusammenhang zwischen erhöhter psychischer Flexibilität und positiven Therapieergebnissen nach transdiagnostischer Behandlung mit der Akzeptanz- und Commitment-Therapie. Medical School Berlin. https://www.medicalschool-berlin.de/news-detail/neue-studie-zeigt-zusammenhang-zwischen-erhoehter-psychischer-flexibilitaet-und-positiven-therapieergebnissen-nach-transdiagnostischer-behandlung-mit-der-akzeptanz-und-commitment-therapie

·       Sauer, C., & Weißflog, G. (2025). Akzeptanz- und Commitment Therapie im (psycho)onkologischen Gespräch: Verhaltenstherapeutische Mikrointerventionen zur Förderung der psychischen Flexibilität. Best Practice Onkologie, 20(4), 369–375. https://doi.org/10.1007/s11654-025-00676-7

·       Schnell, T., & Becker, P. (2007). Der Fragebogen zu Lebensbedeutungen und Lebenssinn (LeBe). Journal für Psychologie, 15(3), 177–190.

·       Stangl, W. (2024). Radikale Akzeptanz. Online-Lexikon für Psychologie & Pädagogik. https://lexikon.stangl.eu/36695/radikale-akzeptanz

 

 

Düsseldorf, 06.12.2025

 

Karsten Hartdegen M.A.

 
 
 

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