„Natürlich kann ich das! Ich habe schließlich 15 Jahre Berufserfahrung!“
Sophie, eine erfahrene Fachpflegerin für Palliativpflege, sitzt in einer abendlichen Gesprächsrunde mit Kolleginnen und Kollegen.
Die Diskussion dreht sich um den Umgang mit Leid und unvermeidbaren Lebenssituationen, als das Thema Akzeptanz aufkommt.
Sophie lehnt sich mit einem selbstsicheren Lächeln zurück, verschränkt die Arme und schüttelt leicht den Kopf. "Akzeptanz? Natürlich kann ich das!", sagt sie mit einer Mischung aus Belustigung und Überheblichkeit.
"In meinem Beruf werde ich täglich mit schwersten Schicksalen konfrontiert. Ich weiß genau, was es heißt, Dinge hinzunehmen, die man nicht ändern kann. Aber ehrlich gesagt, ist das doch eine Selbstverständlichkeit. Akzeptanz ist nichts weiter als eine passive Haltung, die man eben automatisch entwickelt, wenn man lange genug in diesem Job arbeitet."
Sie wirft einen vielsagenden Blick in die Runde, als wolle sie jede weitere Diskussion im Keim ersticken.

Für Sophie bedeutet professionelle Pflege vor allem eines: aktive Gestaltung.
Sie hat unzählige Male erlebt, wie Patientinnen und Patienten sowie deren Angehörige mit der Endgültigkeit einer Diagnose konfrontiert wurden.
Ihrer Erfahrung nach bleibt in solchen Momenten keine Zeit für bloße Akzeptanz. "Wir dürfen uns nicht einfach damit abfinden", sagt sie bestimmt.
"Wir müssen immer nach Möglichkeiten suchen, um Leiden zu lindern, um Hoffnung zu geben, um etwas zu tun. Akzeptanz klingt mir zu sehr nach Resignation."
Doch Sophies Sichtweise beruht auf einem weit verbreiteten Missverständnis. Sie setzt Akzeptanz mit Passivität gleich und verkennt damit die wahre Tiefe und transformative Kraft dieses Konzepts. In Wahrheit ist Akzeptanz keine Kapitulation, sondern eine bewusste, reflektierte Entscheidung, sich auf das zu konzentrieren, was tatsächlich in der eigenen Macht liegt. Sie ist eine Haltung, die, richtig verstanden und angewandt, zu innerer Stabilität, Gelassenheit und langfristiger psychischer Widerstandskraft führen kann.
Akzeptanz als philosophisches und psychologisches Konzept stellt eine tiefgreifende Haltung dar, die weit über trivialisierte Lebensratschläge hinausgeht, wie sie in populären Magazinen oder der Alltagspsychologie oft propagiert werden. Insbesondere im Kontext des Stoizismus und des von Stephen R. Covey beschriebenen "Circle of Influence" offenbart sich Akzeptanz als ein vielschichtiges, reflektiertes und praxisorientiertes Prinzip, das erhebliche Auswirkungen auf das individuelle Wohlbefinden und die persönliche Entwicklung haben kann. Die Behauptung, Akzeptanz sei nichts Außergewöhnliches, wird durch mehrere, zentrale Argumente widerlegt.
Philosophische Fundierung und Tiefgang
Der Stoizismus, eine der bedeutendsten philosophischen Schulen der Antike, fußt auf der Idee, dass der Mensch durch Vernunft, Tugend und Selbstbeherrschung ein erfülltes Leben erlangen kann. Eine der zentralen Lehren des Stoizismus ist die Akzeptanz dessen, was außerhalb der eigenen Kontrolle liegt. Diese Form der Akzeptanz ist keineswegs mit passiver Resignation gleichzusetzen, sondern erfordert eine aktive Auseinandersetzung mit der eigenen Wahrnehmung sowie eine bewusste Steuerung emotionaler Reaktionen. Philosophen wie Epiktet, Seneca und Marcus Aurelius betonten die Notwendigkeit, sich von externen Faktoren zu lösen und die eigene geistige Haltung als primäre Quelle der Lebensqualität zu kultivieren. Studien zu Stoizismus und Achtsamkeit, wie die Arbeiten von Robert Wright („Why Buddhism is True“, 2017) und Donald Robertson („How to Think Like a Roman Emperor“, 2019), belegen die therapeutische Wirksamkeit dieser philosophischen Prinzipien in der modernen Psychotherapie.
Der Circle of Influence als angewandte Selbststeuerung
Das von Stephen R. Covey entwickelte Konzept des "Circle of Influence" verdeutlicht die Notwendigkeit, die eigenen Anstrengungen auf beeinflussbare Faktoren zu konzentrieren und jene Elemente, die außerhalb der eigenen Kontrolle liegen, bewusst zu akzeptieren. Diese Strategie ist keine naive Kapitulation, sondern ein Ausdruck strategischer Selbstdisziplin und gezielter Selbststeuerung. In seinem Werk „The 7 Habits of Highly Effective People“ (1989) erklärt Covey, wie Akzeptanz nicht nur eine Haltung des Loslassens, sondern auch eine Form der aktiven Gestaltung ist. Weiterführende empirische Studien zur Selbstwirksamkeit und zur Bedeutung von Kontrolle in stressigen Lebenssituationen, wie die von Albert Bandura (1997), stützen dieses Konzept.
Wissenschaftlich belegte psychologische Effekte
Empirische Studien in der Psychologie und Neurowissenschaft haben gezeigt, dass Akzeptanz und achtsamkeitsbasierte Techniken, die vielfach auf stoischen Prinzipien basieren, nachweislich das psychische Wohlbefinden fördern. Besonders relevant sind hier die Studien zur Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT), wie die Arbeiten von Steven C. Hayes (2012) und Russ Harris (2009). Diese zeigen, dass Akzeptanz eine essenzielle Strategie zur Bewältigung von Stress, Angststörungen und Depressionen darstellt. In einer Untersuchung von Hayes et al. (2006) zur Wirksamkeit von ACT wurde nachgewiesen, dass Patienten, die lernte, belastende Gedanken und Gefühle zu akzeptieren, signifikante Verbesserungen in der Lebensqualität und psychischen Resilienz erfuhren.
Anwendungsorientierung und praktische Relevanz
Im Gegensatz zu oberflächlichen, oft emotional aufgeladenen Ratschlägen in Boulevardmedien erweist sich Akzeptanz als ein pragmatisches, universell anwendbares Prinzip, das Menschen in schwierigen Lebenslagen befähigt, ihre Widerstandskraft (Resilienz) zu stärken und langfristig eine gelassenere Lebensweise zu entwickeln. Zahlreiche Studien in der Positiven Psychologie, wie die Arbeiten von Martin Seligman („Flourish“, 2011) und Barbara Fredrickson („Positivity“, 2009), belegen, wie Akzeptanz in Kombination mit anderen positiven Denkstrategien zu einer Verbesserung des psychischen Wohlbefindens führen kann.
Zeitlose Gültigkeit und philosophische Rezeption
Die Schriften stoischer Philosophen sind nicht nur historische Artefakte, sondern werden weiterhin in der philosophischen, psychologischen und sogar wirtschaftsethischen Diskussion rezipiert. Ihre anhaltende Relevanz in modernen Therapieansätzen, in der persönlichen Selbstoptimierung und in der Unternehmensführung zeigt, dass diese Prinzipien zeitlose Weisheit beinhalten, die weit über kurzlebige Moden hinausgeht. Massimo Pigliucci (2017) in „How to Be a Stoic“ und William Irvine (2009) in „A Guide to the Good Life“ erläutern, wie diese Prinzipien heute noch praktiziert werden können und was die moderne Psychologie aus ihnen lernen kann.
Transformative Wirkung auf die Persönlichkeit
Die konsequente Integration der Akzeptanz in die eigene Lebenspraxis kann zu einer tiefgreifenden Persönlichkeitsentwicklung führen. Sie fördert Selbstbewusstsein, emotionale Intelligenz und eine innere Gelassenheit, die sich sowohl in persönlichen als auch in beruflichen Kontexten als unschätzbar wertvoll erweist. Diese tiefgreifende und nachhaltige Transformation unterscheidet sich fundamental von den oberflächlichen Veränderungen, die durch kurzfristige Motivation oder trivialisierte Lebensratschläge angeregt werden. In Bezug auf die Persönlichkeitsentwicklung bietet die Forschung von Carol Dweck (2006) über „Growth Mindset“ wertvolle Einsichten in die Langzeitwirkungen von Akzeptanz und Selbstreflexion.
Fazit
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Akzeptanz im Sinne des Stoizismus und des "Circle of Influence" eine fundierte, reflektierte und wissenschaftlich gestützte Praxis darstellt, die sich von simplifizierten Alltagsweisheiten deutlich abhebt.
Sie vereint philosophische Tiefe, psychologische Evidenz und praktische Anwendbarkeit zu einer wirksamen Strategie für langfristiges Wohlbefinden und innere Stabilität.
Die Behauptung, Akzeptanz sei nichts Besonderes, verkennt somit sowohl die historische Bedeutung als auch die transformative Kraft dieser Denkweise.
Literaturverzeichnis
Bandura, A. (1997). Self-efficacy: The exercise of control. W.H. Freeman and Company.
Fredrickson, B. L. (2009). Positivity: Top-notch research reveals the 3-to-1 ratio that will change your life. Crown Publishing Group.
Hayes, S. C., Strosahl, K. D., & Wilson, K. G. (2006). Acceptance and commitment therapy: An experiential approach to behavior change. Guilford Press.
Harris, R. (2009). The happiness trap: How to stop struggling and start living. Trumpeter.
Irvine, W. B. (2009). A guide to the good life: The ancient art of Stoic joy. Oxford University Press.
Pigliucci, M. (2017). How to be a stoic: Using ancient philosophy to live a modern life. Basic Books.
Robertson, D. (2019). How to think like a Roman emperor: The Stoic philosophy of Marcus Aurelius. St. Martin’s Press.
Seligman, M. E. P. (2011). Flourish: A visionary new understanding of happiness and well-being. Atria Books.
Wright, R. (2017). Why Buddhism is true: The science and philosophy of meditation and enlightenment. W.W. Norton & Company.
Moers, 20.02.2025
Karsten Hartdegen M.A.
Der Artikel kann im pdf-Format heruntergeladen werden:
Comments