Die Ethik der Wahrnehmung in Schule, Pflege und Hospizarbeit
- karstenhartdegen
- vor 3 Tagen
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Wahrnehmung ist niemals neutral, sondern stets durch die eigene Haltung, Erfahrung und Projektion geprägt. Gerade in pädagogischen, pflegerischen und hospizlichen Kontexten entscheidet sie über die Qualität der Begegnung und darüber, ob Resonanz, würdevolles, empathisches Handeln und Sinn entstehen können.
„Wir sehen die Welt nicht, wie sie ist, sondern wie wir sind“, schreibt Anaïs Nin (1961).
Dieser Satz entfaltet seine größte Bedeutung dort, wo Menschen mit Menschen arbeiten: in der Schule, in der Pflege und in der Hospizarbeit. Denn hier entscheidet nicht allein Fachwissen über die Qualität der Begegnung, sondern die Art und Weise, wie wir die Welt, und damit den anderen wahrnehmen.
Wahrnehmung wird in der Schule zum pädagogischen Spiegel. Lehrende sind Resonanzkörper, die nicht nur den Lernenden sehen, sondern zugleich ihre eigenen Erwartungen, Hoffnungen und Ängste. Wer einen Jugendlichen als „schwierig“ etikettiert, wird vor allem Widerstand wahrnehmen, während derjenige, der ihn als „suchend“ betrachtet, Lernbereitschaft erkennt. Ein praxisnahes Beispiel verdeutlicht dies: Herr Mölders, ein erfahrener Lehrer, empfindet seinen Schüler Amir zunächst als respektlos und unmotiviert. Jede kleine Unruhe bestätigt für ihn das Bild des „schwierigen Schülers“. Erst durch Selbstreflexion erkennt er, dass seine Wahrnehmung von eigenen Projektionen geprägt ist. Er beginnt, Amirs Zwischenrufe nicht mehr als Störung, sondern als Ausdruck von Neugier zu deuten. Indem er Amirs Fragen in den Unterricht integriert und ihm signalisiert, dass seine Suche nach Antworten willkommen ist, verändert sich die Beziehung: Amir beteiligt sich aktiver, die Klasse erlebt, dass vermeintliche Störung auch als Suchbewegung verstanden werden kann, und Herr Mölders erkennt, dass seine Haltung entscheidend für Resonanz und würdevolles pädagogisches Handeln im Unterricht ist.
Hartmut Rosa (2016) hat mit seiner Theorie der Resonanz gezeigt, dass Bildung nicht allein Wissensvermittlung ist, sondern eine Beziehung zur Welt eröffnet. Resonanz entsteht dort, wo Lehrende ihre eigene Haltung reflektieren und den Lernenden nicht auf die Brille des Lehrers reduzieren. Angela Hörschelmann (2021) betont, dass gerade die Auseinandersetzung mit existenziellen Themen wie Krankheit und Tod in Schulen möglich wird, wenn Lehrkräfte ihre eigene Unsicherheit zulassen. Pädagogische Arbeit verlangt daher Selbstreflexion: Nur wer die eigenen Projektionen erkennt, kann Räume schaffen, in denen Lernende ihre eigene Welt entfalten dürfen (Rogers, 1969; Buber, 1995; Gudjons, 2014).
Auch in der Pflege zeigt sich Wahrnehmung als Quelle von würdevollem, empathischem Handeln. Das Bild, das eine Pflegekraft vom alten Menschen hat, prägt ihr Handeln. Wer ihn vor allem als „pflegebedürftig“ sieht, wird ihn funktional behandeln. Wer ihn hingegen als „lebensgeschichtlich reich“ wahrnimmt, öffnet sich für biografische Gespräche und kleine Gesten des empathischen Fühlens. Die neuere deutsche Literatur hebt die Bedeutung der Biografie orientierten Pflege hervor. Halek und Bartholomeyczik (2012) zeigen, dass Pflege nicht nur Technik, sondern Beziehung ist. Schneider (2006) beschreibt das Sterben als sozialen Prozess, in dem die Haltung der Pflegenden entscheidend ist. Pflegequalität entsteht daher nicht allein durch Standards, sondern durch die Fähigkeit, die eigene Wahrnehmung zu prüfen. Wer sich bewusst macht, dass er die Welt durch die eigene Brille sieht, kann diese Brille auch wechseln, hin zu einer Haltung der Achtung und Empathie (Benner, 2001).
Ein Beispiel verdeutlicht dies: Eine Pflegekraft arbeitet im Frühdienst, hat bereits drei Bewohnern bei der Grundpflege unterstützt und weiß, dass die Medikamentenrunde gleich beginnt. Sie ist unter Zeitdruck, weil die Dokumentation noch nicht erledigt ist. Bei einer Bewohnerin, die kaum spricht, könnte sie einfach routiniert die Pflege durchführen. Doch als sie ein altes Foto auf dem Nachttisch sieht, fragt sie – trotz Stress – nach. Die Bewohnerin beginnt zu erzählen, dass sie früher Schneiderin war. Die Pflegekraft hört kurz zu, auch wenn die Uhr tickt. Diese kleine biografische Öffnung kostet Minuten, schenkt der Bewohnerin jedoch das Gefühl von würdevollem, empathischem Handeln und der Pflegekraft das Bewusstsein, mehr als nur „funktional“ tätig zu sein.
In der Hospizarbeit schließlich wird Wahrnehmung zur letzten Begleitung. Das Sterben ist nicht nur ein medizinischer Prozess, sondern ein Spiegel der Haltung der Begleitenden. Wer den Tod als „Ende“ sieht, spürt vor allem Verlust. Wer ihn hingegen als „Übergang“ betrachtet, kann Trost und Sinn vermitteln. Franziska Eckensberger (2021) spricht von Hospizpädagogik und betont, dass auch im Sterben der Mensch als selbstbestimmtes, lernfähiges Individuum anerkannt werden muss. Hospizarbeit ist damit nicht nur medizinische Begleitung, sondern ein pädagogisches Handeln, das die letzte Lebensphase als Raum für Sinn und Beziehung versteht. „Hospiz ist kein Ort, sondern eine Haltung“ (Hörschelmann, 2021).
Ein Hospiz ist geprägt durch die Haltung der Mitarbeitenden: ob sie Angst oder Gelassenheit ausstrahlen, ob sie Distanz oder Nähe zulassen. Hier entscheidet die innere Haltung über die Qualität des Abschieds (Saunders, 1996; Frankl, 2006; Radbruch & Payne, 2011). Ein Beispiel verdeutlicht dies: Eine Hospizmitarbeiterin hat gerade zwei Familiengespräche geführt, die sehr emotional waren. Sie ist erschöpft und weiß, dass noch ein Neuaufnahmegespräch bevorsteht. Beim Besuch eines sterbenden Mannes könnte sie sich auf die medizinische Versorgung beschränken, um Zeit zu sparen. Doch sie nimmt sich – trotz innerer Müdigkeit – einen Moment, um den Mann zu fragen, ob er Musik hören möchte. Der Patient wählt ein Lied aus seiner Jugend, und die Atmosphäre im Zimmer verändert sich. Die Familie spürt Trost, obwohl die Mitarbeiterin selbst unter hoher Belastung steht. Dieses kleine Zeichen empathischen Fühlens und Denkens macht den Abschied menschlicher.
So zeigt sich in Schule, Pflege und Hospizarbeit: Wir gestalten die Welt des anderen durch die Art, wie wir ihn sehen. Objektivität ist unmöglich, aber Bewusstheit ist erreichbar. Wahrnehmung wird damit zu einem ethischen Akt. Wer erkennt, dass er die Welt nicht „wie sie ist“ sieht, sondern „wie er ist“, kann beginnen, die eigene Haltung zu kultivieren. Damit entstehen Räume für Lernen, für würdevolles, empathisches Handeln und für einen menschlichen Abschied.
In beruflichen Kontexten, in denen Menschen mit Menschen arbeiten – sei es in der Schule, in der Pflege oder in der Hospizarbeit – sind die Rahmenbedingungen oft herausfordernd: große Klassen, organisatorische Anforderungen, Schichtdienste oder emotionale Belastungen. Zugleich bieten diese Bereiche vielfältige Chancen für Begegnung, Beziehung und Sinnstiftung. Lehrkräfte erleben nicht nur die Anstrengung des Unterrichts, sondern auch die Freude, wenn Lernende Neugier zeigen und eigene Fragen einbringen. Pflegekräfte stehen zwar unter Zeitdruck, erfahren jedoch immer wieder Momente echter Nähe, wenn biografische Geschichten sichtbar werden und kleine Gesten empathischen Handelns spürbar werden. Hospizmitarbeitende sind mit emotional intensiven Situationen konfrontiert, spüren aber zugleich, wie bedeutsam ihre Begleitung für Sterbende und Angehörige ist.
Gerade in solchen Momenten wird deutlich, dass die Gefahr besteht, Menschen nur durch die „Brille der Erschöpfung“ zu sehen. Ebenso zeigt sich jedoch, dass kleine Augenblicke bewusster Wahrnehmung – ein Gespräch, ein Blick, ein Zuhören – Räume eröffnen können, in denen Resonanz, empathisches Handeln und Sinn entstehen. Wahrnehmung wird so zu einer Haltung, die Schule, Pflege und Hospizarbeit verbindet und die Grundlage für würdevolles, menschliches Zusammenwirken bildet.
Literaturverzeichnis
Benner, P. (2001). From novice to expert: Excellence and power in clinical nursing practice. Prentice Hall.
Buber, M. (1995). Ich und Du (15. Aufl.). Gütersloher Verlagshaus. (Original erschienen 1923)
Eckensberger, F. (2021). Hospizpädagogik. Pädagogisch handeln in der Sterbephase des Menschen. Peter Lang.
Frankl, V. E. (2006). Der Mensch auf der Suche nach Sinn (12. Aufl.). Beltz. (Original erschienen 1946)
Gudjons, H. (2014). Pädagogisches Grundwissen (11. Aufl.). Julius Klinkhardt.
Halek, M., & Bartholomeyczik, S. (2012). Pflege alter Menschen: Konzepte und Praxis. Hogrefe.
Hörschelmann, A. (2021). Hospiz ist kein Ort, sondern eine Haltung. In Außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik und philosophische Bildung (S. 213–229).



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